Der englische Reiseautor Sam Baldwin ist sein halbes Leben lang dem Ruf der Berge gefolgt. Er hat in sieben Ländern gearbeitet und gelebt – von Japan über Schottland bis Slowenien. Mittlerweile ist er Chefredakteur bei paper republic und erzählt die Geschichten unserer weltweiten Community.

Im Interview verrät er uns, wie er sein Leben im Ausland im Notizbuch festhält, wie er fehlendes Zugehörigkeitsgefühl in Bücher verwandelt hat, worum es beim „Gesetz der verborgenen Türen“ geht und warum KI die Erfahrung des Menschseins in Zukunft umso wertvoller machen wird.

Du hast zwei Jahre im ländlichen Japan verbracht (und ein Buch darüber geschrieben). Warum Japan?

Direkt nach meinem Abschluss in Pharmakologie fing ich mit 21 Jahren einen Job in einem Ski-Resort in Kanada an. Ein Jahr später kam ich zurück nach Großbritannien und suchte mir einen „vernünftigen“ Job in einem Labor. Das Team war nett und arbeitete an wertvoller Forschung – aber ich musste schnell feststellen, dass Laborkittel und Mikroskope nicht meine Berufung waren.

Mein Jahr in Kanada hatte mir die Augen für eine andere Lebensweise geöffnet. Ich bekam den verlockenden Ruf der Berge nicht mehr aus dem Kopf. Ein Freund in Japan schickte mir damals ununterbrochen Fotos von der unglaublichen Schneelandschaft dort. Und als mein Chef im Labor eines Tages über meine Berufsaussichten und die „tolle Rente“ sprach, die mich erwartete, überkam mich der überwältigende Drang zur Kurskorrektur.

Ich bewarb mich auf eine Stelle als Englischlehrer in Japan und packte meine Koffer für ein neues Leben irgendwo im japanischen Hinterland, umgeben von Bergen. Diese Erfahrung veränderte meinen ganzen Lebensweg.

Wie bist du zum beruflichen Schreiben gekommen?

Witzigerweise hasste ich das Schreiben in der Schule. Im Englischunterricht war bei mir kein besonderes Talent festzustellen. Erst in Japan begann ich, regelmäßig zu schreiben. Das Leben war dort so anders als alles, was ich kannte. Jeder Tag war ein Abenteuer voller Unbekannten – zumindest am Anfang. Ich schrieb anfangs über die Eigenheiten des japanischen Lebens, zunächst als Blog. Dann kamen Artikel in Magazinen und Zeitungen und später Bücher dazu.

Als ich wieder nach Großbritannien zurückkehrte, war das Schreiben zu meinem Weg geworden. Abends und am Wochenende schrieb ich als Freelancer Reiseberichte für viele bekannte Publikationen wie The Guardian und The Times. Tagsüber arbeitete ich im Content Marketing: Ich schrieb und lektorierte Artikel, erstellte Podcasts und Newsletter, entwarf Pressemitteilungen und Videoskripte und mehr. Irgendwann führte mich das dazu, mein eigenes internationales Team aufzubauen. Wir produzierten Content in unterschiedlichen Sprachen in Europa, Asien und Amerika.

In meiner heutigen Position als Chefredakteur bei paper republic gehe ich auf andere Menschen zu, um ihre Geschichten zu erzählen. Es ist faszinierend, mit wie vielen interessanten Menschen auf der ganzen Welt ich bereits sprechen durfte.


Erzähl uns mehr über deine Bücher

Mein erstes Buch – For Fukui’s Sake: Two years in rural Japan – ist die wahre Geschichte meiner Erfahrungen in einem ziemlich unbekannten Teil Japans. Ein Ort ganz weit weg vom technologielastigen, überfüllten Japan, das viele sich vielleicht vorstellen.

In dem Land, das ich kennengelernt habe, schlängeln sich Schlangen durch Schulkorridore, durchstreifen Bären dunkle Wälder, gelten Menschen aus dem Westen als kurios. For Fukui's Sake wurde bisher über 11.000 Mal verkauft und ich freue mich, dass es immer noch gekauft wird.

For Fukui's Sake: Two years in rural Japan - a travel memoir book by Sam Baldwin

2024 wurde mein zweites Buch veröffentlich: Dormice & Moonshine: Falling for Slovenia. Darin geht es um die Zeit, als ich mit meinem Bruder eine 300 Jahre alte, baufällige Hütte in den slowenischen Bergen kaufte (in der etwa 300 Probleme auf uns warteten) – und wie ich am Ende mein ganzes Leben nach Slowenien verlegte und zum Einsiedler mit gebrochenem Herzen wurde. Was als kurzer Zwischenstopp geplant war, wurde mit der Entscheidung zu bleiben eine lebensverändernde Erfahrung.

Das Buch erkundet Kultur und Charakter der unterschätzten ex-jugoslawischen Republik, ihre Sprache, ihre wilde Schönheit und ihre noch wilderen Tiere. Das Buch ist eine Liebeserklärung an ein Land, das mich in seinen Bann gezogen und nie wieder losgelassen hat. Und es ist eine Geschichte darüber, was passieren kann, wenn man den Sprung ins Ungewisse wagt, um seinem Traum zu folgen.

Dormice and Moonshine: Falling for Slovenia - a travel memoir by Sam Baldwin

Wie benutzt zu deine Notizbücher beim Schreiben?

Detaillierte Notizen sind ein wichtiger Teil meiner Schreibprozesses. Denn Details verleihen deinen Worten Authentizität, sind aber schnell wieder vergessen. Für Dormice & Moonshine kam ein ganzes Jahrzehnt an Notizen zum Einsatz, die ich während meiner Besuche und meines Lebens dort aufgezeichnet hatte.

Aktuell arbeite ich an meinem nächsten Buch, in dem es um das Leben im ländlichen Österreich gehen wird. Ich schreibe in meinem Notizbuch Geschehnisse, Gedanken und Vorkommnisse auf. All das dient mir beim Schreiben als interessantes Ausgangsmaterial.

Ich habe außerdem diverse andere Notizbücher: eins für meine Deutschlektionen, eins für ein persönliches Projekt, eins für meine Arbeit bei paper republic. Ich habe sogar ein Notizbuch, um den Überblick über meine Ernte aus dem Gemüsegarten im Blick zu behalten.

Wie ist dein Notizbuch aufgebaut?

Im Moment nutze ich meinen grand voyageur [xl] (in Petrolblau) von paper republic. Er hat die perfekte Größe zum Mitnehmen und bietet trotzdem genug Platz für detaillierte Notizen. Ich habe außerdem ein liniertes book refill für meine Arbeitsnotizen und ein gepunktetes Notizbuch, in dem ich mit neuen Ideen herumspiele. Zum Beispiel ein neues Projekt, mit dem ich vor Kurzem angefangen habe: The Travel Memoir Review, ausgewählte Bewertungen und Empfehlungen zu Reisememoiren und Reisetagebüchern.

Warum nutzt du Papier statt Pixel für deine Reisenotizen?

Ich habe über die Jahre verschiedene Dinge ausprobiert, um meine Notizen festzuhalten: Word-Dateien, Notiz-Apps, sogar Sprachnotizen per Diktiergerät. Aber ich liebe, wie schnell ich meine Gedanken mit einem Stift zu Papier bringen kann. Ich habe natürlich ein Smartphone, aber hasse es, darauf zu tippen. Handys sind völlig ungeeignet, wenn man mehr als eine oder zwei Zeilen schreibt.

Mir ist das Simple am Schreiben mit Stift und Papier lieber. Es gibt keine Ablenkungen. Keinen leeren Akku. Keine Internetprobleme. Mein Notizbuch funktioniert überall und jederzeit. Außerdem finde ich es im Vergleich zu digitalen Notizen einfacher, die Worte in meinem Notizbuch als Referenz hinzuzuziehen. Ich kann die gesuchte Seite schnell finden und mein  Notizbuch offen vor mir liegen lassen, während ich am Computer schreibe.


Welchen Rat hast du für andere, die ein Reisebuch schreiben wollen?

Bevor man über so etwas wie einen Ort oder eine Reise schreiben kann, muss man es erst mal erlebt haben. Also geh raus in die Welt und erkunde sie. Schärfe deinen Schreibstil, indem du einen Blog schreibst und bewirb dich mit Ideen für Artikel bei Magazinen. Das Veröffentlichen deiner Texte zwingt dich dazu, interessante Geschichten zu entdecken und das Jonglieren mit Worten zu üben.

Wenn du dann ein Buch schreiben willst, das sich auch verkaufen lässt, solltest du nach einer frischen Perspektive suchen, die es so noch nicht gibt. Das könnte ein Land oder eine Region sein, worüber noch nicht viel geschrieben wurde. Oder ein neuer Blickwinkel auf einen ansonsten gut bekannten Ort.

Bevor ich For Fukui's Sake schrieb, recherchierte ich andere Bücher über Japan, um zu sehen, was schon veröffentlicht wurde. Zu der Zeit gab es wenig englischsprachige Literatur über das Leben im ländlichen Japan, also war das mein Ansatz.

Ähnlich war es bei Dormice & Moonshine. Obwohl Slowenien ein wunderbar einzigartiges und atemberaubend schönes Land ist, gab es kaum ein geschriebenes Wort dazu, wie es sich als Außenseiter dort lebt und arbeitet.

Ich war mir sicher, dass es einen Markt für einen Reisebericht über Slowenien gibt – und wie es aussieht, hatte ich recht. Nach der Veröffentlichung der englischen Version wurde Dormice & Moonshine auch ins Slowenische übersetzt und erschien im Herbst 2025 beim größten Verlag des Landes.

The Slovenian version of Dormice and Moonshine, a book by Sam Baldwin

Wie wird sich KI auf Reiseliteratur und Textberufe allgemein auswirken?

In einem meiner vorherigen Jobs hatte ich die Chance, mit einer frühen Version von ChatGPT herumzuspielen. Schon damals konnte ich sehen, wie wunderbar es funktionieren kann und dass es die Textbranche verändern wird. Falls das nicht schon passiert ist, wird es viel Schreibarbeit ersetzen.

Aber KI ist laut Definition künstlich. Sie kann ziemlich gut Fragen faktisch beantworten und bereits existierende Informationen umformulieren. Aber sie kann niemals originale, körperliche, menschliche Erfahrungen machen. Sie kann nicht auf eine Forschungsstation in der kanadischen Arktis ziehen, in der Ukraine Schmuck designen oder in der berühmtesten Kirche Wiens ihre Kunst ausstellen.

Ich glaube: In dieser neuen Welt voller KI-generiertem Einheitsbrei in allen Bereichen der künstlerischen Kreativität werden echte, menschliche Geschichten irgendwann besonders viel wert sein.

Letzte Frage: Du hast in sieben Ländern gelebt. Was ist das Beste und Schlechteste daran, nicht in der eigenen Heimat zu leben?

Das Beste sind definitiv die vielen Abenteuer und Neuheiten. Das Leben wird nicht langweilig. Niemals hätte ich gedacht, dass ich mal am Fuße der Berge irgendwo in Österreich lande. Im Ausland zu leben, schärft außerdem dein kulturelles Verständnis (wie sich herausstellt, gibt es tausend verschiedene Arten, dieselbe Sache zu machen). Und je nach Land verbessern sich natürlich auch deine Sprachkenntnisse.

Das Schlechteste ist mit Sicherheit, immer so weit weg von Familie und Freunden zu sein und sich aufgrund der Sprachbarriere nicht ganz dazugehörig zu fühlen. Wenn man ankommt, ist erst mal alles neu und aufregend. Aber die Phase ist irgendwann vorbei. Danach muss man sich der sprachlichen Isolation, stellen, dem Anderssein und dem Fakt, dass man immer die Person ist, die nicht komplett versteht, was gerade passiert. Das kann an einem nagen.

Aber auch, wenn das Leben als langjähriger „Fisch auf dem Trockenen“ herausfordernd sein kann, überwiegt für mich deutlich das Wunderbare daran, die Welt außerhalb meiner eigenen Grenzen zu erleben. Ich würde jedem empfehlen, mindestens ein Jahr im Ausland zu leben und arbeiten. Denn es hat mich eine wichtige Lektion gelehrt, die ich Das Gesetz der verborgenen Türen nenne.

Damit meine ich das Konzept, dass es da draußen in der großen, weiten Welt viele Türen zu Gelegenheiten gibt. Aber einige dieser Türen kannst du von Weitem nicht sehen, schon gar nicht öffnen. Erst, wenn du es darauf ankommen lässt und dich ins Ungewisse wagst – an einen neuen Ort ziehst – fangen all die vorher unsichtbaren Türen an, sich dir zu zeigen: neue Freunde, neue Jobs, neue Beziehungen. Und sobald du durch eine Tür trittst, sind auf der anderen Seite immer weitere zu finden.

Sam Baldwin ist Chefredakteur bei paper republic und Autor der Bücher For Fukui’s Sake: Two years in rural Japan und Dormice & Moonshine: Falling for Slovenia. Mehr über seine Arbeit liest du auf SamBaldwin.me.

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