Mia Nemčić aus dem paper republic-Team über ihr Leben mit Autismus, wie die Gesellschaft autistische Menschen unterstützen kann und wie sie dank ihres Notizbuchs schreibend Probleme löste, mit denen sie seit zwanzig Jahren zu kämpfen hatte.

Bei dir wurde als Erwachsene Autismus diagnostiziert. Wie wirkt sich das auf dein Leben aus?
Schon darüber zu reden, ist nervenaufreibend für mich. Weil mich nie jemand danach fragt. Es ist immer noch ein echtes Tabuthema. Irgendwie unangenehm und ungewöhnlich. Kein Small Talk.
Am besten kann ich Autismus so beschreiben: Stell dir eine Gruppe Menschen vor, die Monopoly spielt und alle lesen die Anleitung. Aber meine ist auf Chinesisch. Dann geht das Spiel los, ich mache alles falsch und alle reden wild auf mich ein.
Es fühlt sich für mich an, als ob alle auf einer Wellenlänge sind, ich aber auf einer anderen. Ich bin immer zehn Schritte hinterher. Das gesellschaftliche Leben basiert auf Normen. Für neurotypische Menschen scheinen diese glasklar zu sein. Sie müssen nicht darüber nachdenken. Aber für neurodivergente Menschen sind diese gesellschaftlichen Normen alles andere als klar.
Wenn ich zum Beispiel zu einer Party gehe: Kommt man da normalerweise früher oder ein bisschen später? Setze ich mich meinem Kollegen gegenüber an den Tisch oder soll ich neben ihm sitzen? Fragt man die Leute nach ihrem Tag oder nicht? Alle anderen navigieren scheinbar mühelos durch all diese „normalen“ Verhaltensweisen. Aber autistische Personen haben diesen inneren Kompass nicht.

Wann sind dir diese Unterschiede aufgefallen?
In der Schule hatte ich immer das Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz passte. Aber ich wusste nicht, ob nur ich mich so fühlte, oder ob es allen so ging. Erst vor zwei Jahren nahm ich mir die Zeit, mehr darüber herauszufinden. Denn mein Verhalten begann, mich im Alltag zu stören. Ich brauchte einen Weg, wieder liebevoller zu mir selbst zu sein, mich wieder besser kennenzulernen und endlich zu erkennen, wie ich mit mir umgehen sollte.
Was für Verhaltensweisen waren das, die dir im Weg standen?
Ich fühlte mich gezwungen, alles zu dokumentieren, was ich tat. Genau aufzuschreiben, was jede Stunde passierte, und das mehrmals am Tag. Ich dokumentierte so viel, dass kaum noch Zeit zum Erleben blieb. Ich dokumentiere das Dokumentieren.
Ich habe gelernt, dass das eine Art Selbstregulierung ist. Weil ich die komplexen sozialen Gefüge um mich herum nicht kontrollieren kann, reagiere ich sehr empfindlich auf neue Dinge – Fehler, Störungen, jede Unterbrechung einer Routine. Ich kann mich nur selbst beruhigen, indem ich alles auf Papier nachvollziehe.

Wie hilft dir das Schreiben im Notizbuch als Autistin?
Mit dem Autismus fühlt sich für mich alles immer irgendwie unangenehm an. Aber Dinge auf Papier niederzuschreiben, verschafft mir Linderung, denn das kann ich kontrollieren. Es zwingt mich dazu, akribisch zu sein. Es zwingt mich dazu, meine Worte mit Bedacht auszuwählen. Viele Optionen abzuwägen und meine Gedanken dann sorgfältig auszuformulieren.
Und es muss auf Papier sein, nicht digital, weil ich Papier anfassen kann. Es hat Bestand. Ja, ich kann mein Notizbuch zwar verlieren. Aber wenn ich etwas eintippe, könnte jemand plötzlich meinen Computer abschalten oder meine Festplatte löschen. Das macht mich zu sehr von anderen abhängig.
Ich muss die Kontrolle über meine Notizen haben. Meine Informationen müssen mir gehören. Es ist genau dasselbe, wie DVDs zu kaufen, anstatt sich auf Streaming-Anbieter zu verlassen. Wenn du streamst, bist du vom Anbieter abhängig. Er kann Filme entfernen oder dein Konto schließen.
Aber wenn der Film dir gehört, auf einem physischen Datenträger, kannst du immer darauf zurückgreifen. Und darum benutze ich mein Ledernotizbuch. Ich weiß, dass meine Notizen sicher sind.

Ist das Führen von Notizbüchern zur Selbstregulierung in der Autismus-Community verbreitet?
Ja, ich glaube, das ist unter Menschen mit Autismus recht häufig zu sehen. Je mehr man schreibt, desto mehr löst sich das Unbehagen auf. Also ist man geneigter zu schreiben.
Ich glaube, wenn Menschen sich unwohl fühlen, fangen sie oft an zu schreiben, Tagebuch zu führen oder ihre Situation festzuhalten. Denn man braucht ein solches System, um die eigenen, kreisenden Gedanken aus dem Kopf zu bekommen. Das Schreiben hilft, inneren Frieden zu finden.
Hat das Skizzieren oder Zeichnen in deinem Notizbuch denselben Effekt auf dich?
Zeichnen macht es für mich schlimmer. Weil es zu unvorhersehbar ist, zu fließend und frei. Es ist das Gegenteil von dem, was ich möchte. Es ist zu unstrukturiert. Ich zeichne, wenn ich einen guten Tag habe. Wenn ich einen schlechten Tag habe, schreibe ich.
Sprichst du auch auf deinem TikTok-Kanal über Autismus?
Tatsächlich habe ich mal ein Video gemacht, in dem ich einen Überblick über Autismus gegeben und versucht habe, das Spektrum zu erläutern. Die Kommentare waren echt spannend. Es waren entweder Eltern, die um Rat zu ihren autistischen Kindern fragten. Oder Leute, die sich dafür bedankten, dass ich uns eine Stimme gebe.
Bei Frauen – insbesondere im Erwachsenenalter – wurde Autismus immer etwas unter den Teppich gekehrt. Bei vielen wurde es nie diagnostiziert, weil wir die Symptome so gut verstecken können. Früher wurde ein Junge, der nicht spricht und selbstzerstörerisch handelt, schnell mit Autismus diagnostiziert. Aber ein Mädchen, deren Autismus sich nur in Schüchternheit äußert, war eben einfach schüchtern.
Einige Eltern sagten, dass ihr Kind unter dem Autismus leidet. Aber ich konnte herauslesen, wie sehr sie das Kind unter Druck setzen. Ich bekam dann den Eindruck, dass nicht das Kind mit dem Autismus zu kämpfen hatte, sondern die Eltern Probleme mit dem Erziehen eines autistischen Kindes hatten. Dem Kind ging es super.
Jeder versucht, die Kinder zum Funktionieren zu bringen. Aber meistens lernt das Kind dadurch nur, seine Symptome zu verstecken und ein Leben voller Unwohlsein zu führen.

Wie könnte die Gesellschaft das Leben für Menschen mit Autismus leichter machen?
Man sollte nicht davon ausgehen, dass all die kleinen, gesellschaftlichen Normen, die für andere normal sind, für autistische Menschen auch normal sind. Als wir uns heute zum Interview getroffen haben, habe ich dich zum Beispiel nicht gefragt: „Wie geht's?“. Für deinen Tag ist es egal, ob ich weiß, wie er war. Also warum sollte ich das erfahren sollen?
Ich weiß natürlich, dass neurotypische Menschen gelernt haben, das zu fragen. Sie tun es aus Gewohnheit. Aber den meisten Leuten ist eigentlich egal, wie dein Tag war. Also macht es für autistische Menschen keinen Sinn, danach zu fragen.
Was auch gut zu wissen ist: Einige Menschen mit Autismus sind weniger ausdrucksvoll. Ich klinge manchmal sehr sachlich, streng oder sogar barsch. Und das kann für andere unangenehm sein.
Sogar, wenn ich etwas zu feiern habe, würde ich niemals die Arme in die Luft reißen. Ich drücke meine Gefühle nicht auf dieselbe Weise aus. Das fühlt sich für viele komisch an, weil ich unzufrieden oder unhöflich wirke. Wenn neurotypische Menschen zum Beispiel um einen Gefallen bitte, ändern sie ihren Tonfall. Wir machen das nicht und das klingt dann gleich fordernd. Oder es klingt, als würden wir keine Hilfe brauchen, obwohl wir das tun.
Ich werde nie vergessen, wie ich mal in einem Krankenhaus in Kroatien war, weil ich Hilfe brauchte. Aber weil ich nicht wie jemand in Not wirkte, wurde ich ausgelacht und weggeschickt. Autistische Menschen können sich oft weniger gut ausdrücken, aber das heißt nicht, dass wir weniger auf Hilfe angewiesen sind.

Es gibt immer mehr Dokus, Filme und Fernsehsendungen, die sich um echte oder fiktionale Menschen mit Autismus drehen. Glaubst du, das ist eine gute Entwicklung?
Ich persönlich habe kein Problem mit solchen Sendungen und finde es gut, dass Autismus in der breiten Öffentlichkeit bekannter wird. Aber viele in der Community finden, dass alles die Sendungen uns oft nicht ganz richtig repräsentieren.
Oft werden die Leute als kindlich dargestellt – z. B. als 30-jähriger Mann, der geradezu besessen von seinen Puppen und Dinos ist – oder wie bei "Rain Man" als nonverbales Genie. Die meisten Menschen mit Autismus sind aber nicht wie Sheldon Cooper.
Das allgemeine Gefühl ist, dass wir in diesen Sendungen nicht richtig dargestellt werden, was der autistischen Community theoretisch mehr schaden als helfen könnte.

Welchen Rat gibst du Menschen mit Autismus, die sich mit Notizbüchern selbst helfen wollen?
Ich schreibe, wenn ich einer Sache auf den Grund gehen möchte. Ich will mir immer die Fragen stellen, die unfassbar schwer zu beantworten sind. Du musst wirklich in dich gehen und dich selbst fragen: Welcher Frage gehe ich aus dem Weg?
Wenn du zum Beispiel wütend auf jemanden wirst, frag dich: Warum macht mich das so wütend?
Denn so etwas kann sich in scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten äußern. Zum Beispiel ist es jedes Mal in der U-Bahn so, dass Leute beim Bremsen ins Torkeln oder Stolpern kommen. Früher ging mir das total auf die Nerven. Aber warum?
Also schrieb ich die Frage in mein Notizbuch und dachte intensiv darüber nach. Mir wurde klar, dass es mit meiner Erziehung zusammenhing. Ich durfte nie Fehler machen. Also könnte ich mir niemals erlauben zu stolpern. Aber diese Menschen in der U-Bahn hatten das Gefühl, stolpern zu dürfen. Ich war also sauer, weil sie stolpern durften und ich nicht.
Und sobald die Antwort klar war, verschwand das Problem. Es nervt mich nicht mehr. Mit meinem Notizbuch und meinen Fragen habe ich schon Probleme gelöst, die mich zwanzig Jahre lang geplagt hatten.
Mehr Videos von Mia gibt es auf ihrem TikTok-Kanal (auf Kroatisch). Und mehr über das Notizbuch als Therapie-Tool erfährst du von Nastya, einem weiteren Teammitglied von paper republic.